Abstract
This study analyzes the theological conceptions of reality and illusion held by Martin Luther until 1518. Inspired by the mystics, especially Johannes Tauler, by Augustine (De spiritu et littera), and by the humanist exegetical approach to the Bible, Luther developed his «theology of the cross» as an interpretive key for perceiving the activity of God in the world in terms of a hidden spiritual action sub contraria specie, which is accessible only by faith. From this viewpoint, he criticized scholastic theology, conventional religious practice, canon law, and exterior «ceremonies» because he detected conscious or unconscious illusionism in all of them. Through a philological analysis of biblical language and thought, he endeavored to develop an alternative conception of religious and ecclesiastical life based on the fully trustworthy «promise» of Christ. In 1517-1518, when the debate on indulgences began, this kind of theological thinking gave a crucial impulse to the historical process that is generally called the «Reformation». Also deserving of attention is the fact that in the years 1513-1518 Luther repeatedly stylized himself as an apologist of the Roman Catholic faith against what he defined as the arrogant rigorist view of the Czech Brethren. In truth, however, this confrontation also contributed to the formation of Luther’s theological thought.
Keywords
Böhmische Brüder; Kreuzestheologie; Martin Luther; Mystik; JohannesTauler
Abstract
Questo studio si propone di analizzare le concezioni di realtà e illusione affermate da Martin Lutero fino al 1518. Ispirato dalla mistica (e in particolare da Johannes Tauler), da Agostino (De spiritu et littera) e dall’approccio umanista al testo della Bibbia, il teologo di Wittenberg sviluppò la sua «teologia della croce» come una chiave per interpretare l’intervento di Dio nel mondo nei termini di un’azione che avviene sub contraria specie ed è percepibile esclusivamente nella fede. Da questo punto di vista, la sua critica alla teologia scolastica, alla prassi religiosa convenzionale, al diritto canonico e alle «cerimonie» hanno un denominatore comune nell’accusa di un illusionismo inconsapevole o consapevole. Adoperando un’analisi filologica del testo biblico, Lutero tentò di elaborare una concezione alternativa di vita religiosa ed ecclesiastica basata sulla «promessa» di Cristo, considerata la sola istanza pienamente affidabile. Quando nel 1517-18 si aprì il dibattito sulle indulgenze, questo tipo di pensiero teologico fornì impulsi teologici decisivi al processo storico della Riforma. Merita inoltre attenzione che negli anni 1513-18 Lutero si presenta ripetutamente come apologeta della fede cattolica contro ciò che considerava la visione arrogante e rigorista dei Fratelli boemi. In realtà, però, questo confronto ugualmente contribuì alla formazione del pensiero teologico di Lutero.
Parole-chiave
Böhmische Brüder; Kreuzestheologie; Martin Luther; Mystik; JohannesTauler
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Hans Schneider zum 75. Geburtstag
«Unter deinem hochberühmten Namen» – so wandte sich am 31. Oktober 1517 der Wittenberger Augustinereremit und Theologe Martin Luther an Erzbischof Albrecht von Brandenburg – «gehen päpstliche Ablässe für die Kirchenfabrik von St. Peter um». In diesem Brief, dem die 95 Thesen als Anlage beigelegt waren, beklagte Luther, dass die Ablasspredigt im Volk irrige Meinungen und Heilserwartungen verursache. Angesichts dessen wies Luther den Erzbischof darauf hin, dass dieser die seelsorgerliche Verantwortung für das Entstehen dieser Auffassungen übernehmen müsse, denn «durch die falschen Märchen und Versprechungen von Straferlassen» (per illas falsas veniarum fabulas & promissiones) werde das Volk zu falscher Sicherheit verleitet. In dieser Schlüsselsituation seiner Biographie brachte Luther also eine Unterscheidung zwischen illusorischer und wirklichkeitsgemäßer Kirchenlehre zum Ausdruck. Auf der Seite des Illusorischen kam die institutionell legitimierte Kampagne des Petersablasses zu stehen, die seit 1515 im mitteldeutschen Raum im Gange war. Als realitätsgemäßen Ansatz charakterisierte Luther hingegen in diesem Brief das Leitbild der «engen Pforte» zum Heil. In Anlehnung an Philipper 2,12 erklärte er, dass die Christen sich «mit Furcht und Zittern» um ihr Heil mühen müssten1.
Die Zielsetzung dieses Beitrags ist, das hier angedeutete Realitätskriterium anhand einiger früher Aussagen Luthers näher zu fassen. Dabei sollen besonders zwei Argumentationslinien verfolgt werden: die Rezeption der Mystik sowie die ekklesiologische Reflexion.
1. Die Rezeption der Mystik
Zuerst ist festzuhalten, dass Luthers Unterscheidung zwischen fiktiver und realer Theologie mit seiner Mystik-Rezeption zusammenhängt. In den Psalmen-Scholien (1513/15) veranlasst ihn Psalm 65,1 («Gott, man lobt dich in der Stille») dazu, eine «ekstatische und negative Theologie» als die wahre und vollkommene Theologie zu propagieren und sie der unvollkommenen «affirmativen Theologie» gegenüberzustellen. Unter ausdrücklicher Berufung auf den Areopagiten leitet Luther daher aus dem Psalmwort eine Einladung dazu ab, über die denkerische Sphäre (super omnem cogitatum, vgl. Phil 4,7) hinauszugehen und in das «Dunkel» einzutreten. Sein Urteil über die affirmative Theologie ist dabei ambivalent. Einerseits wirft er ihr schon hier Anmaßung bei der Disputation und Assertion de Divinis vor, was seine spätere Aristoteles- und Scholastik-Kritik antizipiert. Andererseits bezeichnet er die affirmative Theologie als «Milch», d.h. als geistliche Speise der Anfänger im Glauben, die den «Wein» der negativen Theologie noch nicht ertragen2. Die Scholastik stellt diesem Text zufolge also eine legitime Durchgangsstation dar. Strukturelle Analogien zu diesem Gedankengang zeigen die Glossen, die Luther um 1515/16 in einen Druck von Taulerpredigten des Jahres 1508 einfügte. Hier unterscheidet er zwei Gestalten der Gottesgeburt in der Seele: eine moralische und eine kontemplative, für die er Marta und Maria (vgl. Lk 10,38-42) als Paradigmen anführt. Auf der zweiten Ebene lokalisiert er die «mystische Theologie», die er mit Jean Gerson als sapientia experimentalis et non doctrinalis definiert sowie als «eigentliche Theologie» und als «eine verborgene Angelegenheit» (negotium absconditum) bezeichnet3. Während die Analogie zwischen beiden Texten auf der abschließenden Ebene unverkennbar ist (negative Theologie – Verborgenheit), geht es auf dem Niveau der Vorläufigkeit einmal um Spekulation und einmal um Ethik. Allerdings wird Luther beide Themenbereiche wenige Jahre später auf der Heidelberger Disputation eng miteinander verschränken (s.u. Kap. 4).
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